Wappen des Schachklubs Hietzing Wien
Schachklub Hietzing Wien
gegründet 1921
Schachklub Hietzing

Broschüre "75 Jahre Hietzing 1921 - 1996"
Carl Schlechter

Biographie

Carl Schlechter
Carl Schlechter
2.3.1874 - 27.12.1918

Der Mann, dem das Jubiläumsturnier des Schachklubs Hietzing gewidmet ist und dessen Namen es trägt, Carl Schlechter, ist der bedeutendste Meister, den es in der öster­reichischen Schachgeschichte gegeben hat. Beginnen wir mit seinem äußeren Lebensablauf. Er wurde am 2. März 1874 in Wien geboren und sollte den kauf­männischen Beruf erlernen, das wäre eine solide und wenig abenteuerliche Tätigkeit gewesen. Aber wie so mancher andere junge Mensch geriet Schlechter in die Fänge des Schachspiels. Zum Glück der Weltschachgemeinde, doch zu seinem eigenen Unglück nahm ihn die göttliche, teuflische Lust des Spiels so gefangen, dass er der süßen Verlockung sein Leben zu opfern entschlossen war.

Als Zwanzigjähriger debütierte er in einem internationalen Turnier, dem von Leipzig 1894, wo Dr. Siegbert Tarrasch zum vierten Mal in ununterbrochener Reihenfolge den ersten Preis gewann. Carl Schlechter endete im Mittelfeld, an elfter Stelle, mit drei Siegen, vier Niederlagen und zehn Remisen. Die Anzahl der Remispartien war also von vornherein Charakteristikum und Stigma seiner Schachnatur, wie Carl Schlechter ja auch schon im Jahr vorher einen Wettkampf gegen Georg Marco mit dem Ergebnis 0 Siege, 0 Niederlagen und 10 Remis abgeschlossen hatte.

Einer Gesamtstatistik seiner von 1894 bis 1918 dauernden, also rund 25 Jahre erfüllten internationalen Schachtätigkeit entnehmen wir die Tatsache, dass Carl Schlechter insgesamt 278 Partien gewonnen, 102 Partien verloren und nicht weniger als 380 unentschieden gespielt hat. Von seinen neun Wettkämpfen blieben sieben ebenfalls unentschieden (gegen Georg Marco 0:0:10; gegen Adolf Zinkl 4:4:3; gegen David Janowski 2:2:3; gegen Semjon Alapin 1:1:4; gegen Dr. Emanuel Lasker 1:1:8 und gegen Dr. Siegbert Tarrasch 3:3:10). Nur ein Wettkampf gegen David Janowski (1902) ergab einen Sieg von 6:1:3 und einer gegen Akiba K. Rubinstein (1918) einen Verlust von 1:2:3. Eine Erklärung dafür zu geben, will ich später versuchen. In den Neunzigerjahren hielt sich die Erfolgskurve Carl Schlechters gleichfalls in der Remis-Mitte, immer um 50 Prozent herum. Er wurde in Hastings (1895) Neunter (Sieger Harry N. Pillsbury), in Nürnberg (1896) Siebenter bis Achter (Sieger Dr. Emanuel Lasker), in Budapest (1896) Vierter bis Fünfter (Sieger Michail J. Tschigorin), in Berlin (1897) Sechster bis Achter (Sieger Rudolf Charousek), in Wien (1898) Fünfter (Sieger Dr. Siegbert Tarrasch), in Köln (1898) Sechster bis Siebenter (Sieger Amos Burn), in London (1899) Fünfter (Sieger Dr. Emanuel Lasker) und in Paris (1900) Siebenter bis Neunter (Sieger Dr. Emanuel Lasker).

Dann stellte sich der erste große Erfolg ein, in München 1900: erster Preis geteilt mit Harry N. Pillsbury, ohne Partieverlust. Auch in Monte Carlo 1901 ging es sehr gut: Zweiter hinter David Janowski. Hierauf folgten wieder einige mäßige Ergebnisse: Fünfter bis Siebenter in Monte Carlo 1902 (Sieger Geza Maroczy) und Vierter in Monte Carlo 1903 (Sieger Dr. Siegbert Tarrasch). Auch im Gambitturnier von Wien 1903 (Sieger Michail J. Tschigorin) schloss Schlechter nur mäßig ab, an neunter und vorletzter Stelle, ein Symptom mehr, dass er aggressives Spiel nicht liebte. Besser ging es in Monte Carlo 1904 (Zweiter hinter Geza Maroczy) und im allerdings schwach besetzten Koburger Turnier des gleichen Jahres (Erster bis Dritter mit Curt von Bardeleben und Rudolf Swiderski). Zwei Turniere mehr lokaler Natur in Wien 1904 und Wien 1905 brachten ihm erste Preise. Doch in den Großturnieren von Ostende 1905 und Barmen 1904 ließ Carl Schlechter wieder den anderen Großmeistern den Vortritt. Er wurde in dem einen Vierter (Sieger Geza Maroczy) und in dem anderen Vierter bis Fünfter (Sieger David Janowski und Geza Maroczy).

Nach zehnjähriger Tätigkeit schien also Schlechter endgültig auf den Rang eines sehr starken und schwer besiegbaren, aber nicht zur Höchstklasse gehörenden Meisters festgelegt. Da brachte das Jahr 1906 eine Wendung. Schlechter besetzte nach einem großartigen Ringen im Riesenturnier von Ostende 1906 nach dreißig Runden den ersten Platz vor Geza Maroczy, Akiba K. Rubinstein, Dr. Ossip Bernstein, Amos Burn, Richard Teichmann, Frank J. Marshall, David Janowski usw. Nun war er ganz oben und blieb es, ungeachtet kleiner Rückfälle. In Stockholm 1906 (gemischtes Turnier) Erster bis Zweiter, Nürnberg 1906 Dritter bis Vierter (hinter Frank J. Marshall und Oldrich Duras), in Wien 1907 Sechster (Sieger Jacques Mieses), im Championturnier Ostende 1907 Zweiter (hinter Tarrasch und vor Frank J. Marshall, David Janowski, Amos Burn, Michail J. Tschigorin), im gigantischen Turnier von Karlsbad 1907 Vierter bis Fünfter (hinter Akiba K. Rubinstein, Geza Maroczy und Paul S. Leonhardt).

Und nun kam 1908, Schlechters Ruhmesjahr: Wien und Prag, mit je zwanzig Meistern. Beide Male gewann Schlechter die Siegespalme (in Wien geteilt mit Oldrich Duras und Geza Maroczy, in Prag geteilt mit Oldrich Duras). Von 38 Partien verlor er eine einzige. Schlechter war damit endgültig zur Groß­meisterklasse seiner eigenen Generation und der nachfolgenden Generation der Akiba K. Rubinstein, Dr. Ossip Bernstein, Aaron Nimzowitsch, Richard Spielmann, Milan Vidmar, Raoul J. Capablanca vorgestoßen, spät, aber mit durchschlagender Überzeugungskraft.

Nach dem für Schlechter etwas weniger glücklich verlaufenen Turnier in St. Petersburg 1909 (Sieger Dr. Emanuel Lasker und Akiba K. Rubinstein) erklomm er im Jahr darauf noch einmal die Spitze, in Hamburg 1910, wo er Oldrich Duras, Aaron Nimzowitsch, Richard Spielmann, Frank J. Marshall, Richard Teichmann, Dr. Alexandar Aljechin, Dr. Siegbert Tarrasch u.a. hinter sich ließ. Wohl stellten sich auch danach noch große Erfolge ein, wie der zweite bis dritte Preis in Karlsbad 1911 (Sieger Richard Teichmann), der vierte bis sechste Preis in Pistyan 1912 (Sieger Akiba K. Rubinstein) und der vierte bis fünfte Preis in Breslau 1912 (Sieger Oldrich Duras und Akiba K. Rubinstein). Aber der Höhepunkt war überschritten.

Vielleicht wäre ein neuer Höhenflug gekommen, denn Carl Schlechter war noch ein junger Mann, in der Vollblüte seiner Jahre. Da jedoch brach der Weltkrieg aus – und das war das Ende für den, solchen Katastrophen des Lebenskampfes nicht gewachsenen, Meister. Seine stille Art, sein bescheidenes Wesen, seine Ängstlichkeit, andere Menschen mit seinen Nöten und Sorgen zu behelligen, hielt ihn davon ab, auf das Elend aufmerksam zu machen, in das er langsam hineingeriet. Keine Turniere mehr, fast keine Verdienstmöglichkeiten und am Ende der nackte Hunger. Zwei Mal in Berlin 1918 und im selben Jahr in Kaschau trat er noch in kleinen Turnieren auf, aber nur noch als Schatten seiner selbst. Wenige Wochen nach dem zweiten Berliner Turnier (Sieger Dr. Emanuel Lasker) war Schlechters von Natur aus zarter und jetzt vollends entkräfteter Körper des letzten Selbstschutzes beraubt. In dem nun hereinbrechenden strengen Winter (ohne Kohle und ohne Lebensmittel) erkrankte Carl Schlechter an einer Lungenentzündung und starb am 27. Dezember 1918 in einem Budapester Spital. Das war der Abschied von dieser Welt, in der es Carl Schlechter um ein Haar zum Kaiser des Schachreiches, zum Weltmeister gebracht hätte.

Dieses vorbeihuschenden Momentes höchsten Ruhmes muss noch gedacht werden. Es war im Jahre 1910. Schlechter spielte mit Dr. Emanuel Lasker in Wien und Berlin um den Weltmeistertitel. Insgesamt zehn Partien. Bis zur allerletzten Partie führte der Wiener mit 1:0. Vergeblich hatte Dr. Emanuel Lasker in neun Partien die Defensiv­positionen Schlechters zu stürmen versucht. Nun war der Schlussgang gekommen und Dr. Emanuel Laskers Welt­meisterschaft in höchster Gefahr. Wenn er wieder nur ein Remis machte, war er verloren. Er musste also gewinnen, gegen einen Schlechter, den größten Verdeidigungskünstler dieser Epoche. Neunmal war es Dr. Emanuel Lasker misslungen, wie gering war die Chance, dass es jetzt doch noch glücken werde. Aber Dr. Emanuel Lasker bezwang wieder einmal das Schicksal selbst, in einer Partie von unerhörter Waghalsigkeit, in einer Partie, die eigentlich schon klar zugunsten Schlechters stand, in einer Partie, deren Ablauf ein dämonischer Wille formte, der harte, erbarmungslose Wille Dr. Emanuel Laskers. Dieser Dämonie musste Carl Schlechter unterliegen, er, das Gegenteil aller Dämonie, er, die Bescheidenheit selbst.

Schon vor mehr als vierzig Jahren und dann noch einmal vor 25 Jahren in meinem Buch über Wilhelm Steinitz habe ich mich mit dem Phänomen Carl Schlechter beschäftigt, und ich kann an dieser Stelle wiederholen, was ich schon damals gesagt habe. Vergebens bliebe jeder Versuch, irgendwas Wildes und Romantisches in Schlechters Leben zu entdecken. Nicht der ungestüme Opferdrang eines Adolf Anderssen, Michail J. Tschigorin, David Janowski, Richard Spielmann, nicht die Psycho-Philosophie eines Dr. Emanuel Lasker, kein Gipfelpunkt, keine überragende einheitliche Idee, aus der sich die Persönlichkeit Carl Schlechters erklären ließe. Alles fließt wie ein Märchen dahin: Partie auf Partie, Gedanke auf Gedanke, in breiter Erzählmanier. Jede einzelne Partie Carl Schlechters könnte auch ein anderer gespielt haben, man sieht es ihnen auf den ersten Blick nicht an, von wem sie stammen. Aber alle zusammen, in ihrer Gesamtschau und Verbundenheit, geben sie doch ein klares Bild: kein Lyriker und kein Dramatiker, kein Naturbetrachter und kein Philosoph, sondern ein großer Epiker; nicht Byron und nicht Shakespeare, nicht Goethe und nicht Nietzsche, aber der Homer des königlichen Spiels!

Carl Schlechter hatte gewiss auch die Kraft der divinatorischen Kombinations­gabe und in der Tat fällt in den Bereich unseres Schach-Homer auch manches über­raschende Husarenstückchen wie die verwegene Attacke gegen Salwe (St. Petersburg 1909) oder die odysseeische Findigkeit in der fünften Matchpartie gegen Dr. Emanuel Lasker. Doch das sind Ausnahmen, sie füllen den umfassenden epischen Erzählerton nur aus, ergänzen ihn und gehören eben auch mit dazu, wie so vieles andere noch. Doch nichts wird überbetont, nichts wird unter­strichen. Carl Schlechters Schach­kunst betont überhaupt nichts, denn sie vermag alles und macht kein Wesen daraus – Bescheidenheit.

Es ist so recht bezeichnend für ihn: In sieben Turnieren wurde er Sieger, doch nur in zweien (Ostende 1906 und Hamburg 1910) nahm er den Siegespreis ungeteilt, als ob er eine Scheu gehabt hätte, ganz allein ohne Begleitung die Einsamkeit des Triumphes zu erfahren – be­scheiden. Und aus Bescheidenheit wählte er eine einzige auffällige Note seines Spiels: die Methode der Verteidigung. Carl Schlechter ist der repräsentabelste Meister der so genannten "Wiener Schule" geworden, aber nicht aus deren Geist, sondern aus dem Geist seiner eigenen Individualität: Er kann auch anders, aber er ist zu liebenswürdig und zu bescheiden dazu. Die "Wiener Schule" ist die Schule der Vorsicht, der systematischen Sorgfalt, fast ein Protest gegen Wien, dem man bekanntlich Schlamperei und Leichtsinn vorwirft. Carl Schlechter jedoch ist vorsichtig und sorgfältig, nicht um irgendeiner Schulmarotte willen, nicht einer Theorie zuliebe, sondern aus angeborener Zurückhaltung und Delikatesse.

Wenn man vom Charme des Wieners spricht, so ist das häufig stark übertrieben. Bei Carl Schlechter aber stimmt es. Man wird seine Partien in allen künftigen Zeiten nachspielen, weil sie Kunst­werke eines noblen Geistes sind. Man soll aber nie vergessen, dass es der noble Mensch Carl Schlechter war, der die noblen Kunstwerke schuf.

Carl Schlechters letzte Lebenstage waren leider recht traurige. "Am 11. Dezember 1918", so lesen wir im "Magyar Sakkvilag", traf er als Gast des "Budapester Schachklubs" in Budapest ein, wo er seinen alten Bekannten gleich durch sein blasses, leidendes Aussehen auffiel. Man war eifrig um den allseits beliebten Meister besorgt, und die Schach­freunde Budapests wett­eiferten darin, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Aber alles war vergebens. Von Tag zu Tag wurde er müder. Am 23. Dezember begab er sich zum Bahnhof, denn er wollte den Weihnachtsabend zu Hause bei seiner alten Mutter verbringen, an der er mit rührender Zärtlichkeit hing. Vor der Abfahrt des Zuges wurden ihm aber im großen Menschenandrang seine Reisetasche und sein Geld gestohlen.

Der "Budapester Schachklub" er­setzte ihm in generöser Weise seinen Verlust. Drei Tage später, am 26. Dezember, war der Meister neuerdings zur Abreise bereit. Da überfiel ihn plötzlich ein Unwohlsein, und er musste in ein Spital gebracht werden, wo er noch in derselben Nacht am 27. Dezember 1918 starb. Die Ärzte konstatierten als Todesursache ein durch die Wiener Unterernährung in der Kriegszeit wieder aktiv gewordenes altes Lungenleiden.

In einem von der Stadt Budapest gestifteten Ehrengrab wurde Carl Schlechter feierlich beerdigt.